Kundenindividuelle Produkte halten mehr und mehr Einzug und auch die Automobil-Industrie macht davor natürlich nicht halt. Fahrzeug-Konfiguratoren gestatten unzählige Kombinationsmöglichkeiten und letztlich fährt heutzutage so gut wie jedes Fahrzeug als Unikat aus der Endmontage-Halle. Dass sich die einzelnen Gewerke wie Rohbau, Lackiererei und Montage auf diese Vielfalt einstellen und neue Produktionsmethoden anwenden müssen liegt auf der Hand. Aber führt die Produktion, quasi in Losgröße 1 tatsächlich zum Ende des Fließbands, wie es am Beispiel der Audi AG durch die Medien ging? Dieser Frage ging die Chefsache „Audi – Das Ende des Fließbands?“ auf den Grund und beschränkte sich dabei nicht nur auf die Produktion von Fahrzeugen.
Werkleiter Helmut Stettner, verantwortlich für das Hauptwerk und den Montagestandort im 6 km entfernt gelegenen Industriegebiet Böllinger Höfe, begrüßte die Teilnehmer und stellte die Geschichte des Audi-Standorts Neckarsulm, ältester Automobilstandort Deutschlands, vor. 17.000 Mitarbeiter haben auf einer Gesamtfläche von 1,25 Millionen Quadratmetern im Jahr 2017 insgesamt 193.000 Fahrzeuge produziert. Während die Produktvielfalt im ganzen Konzern bei 16 Baureihen mit 52 Derivaten liegt, entfallen alleine auf Neckarsulm schon 6 Baureihen und 18 Derivate. Die dafür benötigte Anzahl von 65.000 unterschiedlichen Teilen macht die Vielfalt besonders deutlich. Neben den Zahlen besonders eindrucksvoll ist auch die Bandbreite an technischen Zukunftsprojekten, mit denen sich die Audi AG beschäftigt. Dazu gehören zum Beispiel Metall-3D-Druck, Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK), Virtual Reality, Drohneneinsatz oder auch Geo-Fencing, womit Zuliefer-LKW´s, die noch weit entfernt sind, auf einen optimalen Ankunftszeitpunkt hingelenkt werden.
Nach dem Überblick durch Werkleiter Stettner, ging Kirsten Oberschelp, Innovationenmanagement und Technologieentwicklung bei der Audi AG, auf die Produktion der Zukunft bei der Audi AG ein. Bei zunehmender Produktvielfalt ist eine getrennte Betrachtung von Produktionsanlage und Transportvorrichtung nötig, um beide gezielt optimieren zu können. Anhand von Beispielen zeigte Kirsten Oberschelp voneinander unabhängige Lösungen für die Gewerke Karosserie-Rohbau, Lackierung und Montage. Neben den fahrerlosen Transportfahrzeugen (FTF), die vorrangig in der Montage zum Einsatz kommen, überraschte die Idee einer intelligenten Zwischenpufferung von Karossen in der Lackierung, um optimale Rüst- und Prozesszeiten zu erzielen. In jedem Fall steht Flexibilität im Vordergrund. Nach dem theoretischen Ausflug in Produktionskonzepte der Zukunft, hatten die Teilnehmer die Möglichkeit die aktuelle Serien-Produktion der A6/A7-Baureihen anzuschauen und trafen eine sehr saubere und gut strukturierte Fertigung, mithilfe von ausgeklügelten Transport- und Hebesystemen unter Ausnutzung der Gebäudehöhe, hochautomatisiert und ergonomisch ausgelegt an. Ein kurzer Überblick über eine Großserien-Fertigung mit einem Takt von nur 87 Sekunden, für den Vergleich mit der Manufaktur, die am nächsten Tag auf dem Programm stand, dennoch wichtig.
Glänzend meisterte Prof. Gisela Lanza, Institutsleiterin am Institut für Produktionstechnik (wbk) des KIT, die schwierige Aufgabe, die Teilnehmer wieder in die Theorie der „Produktion der Zukunft“ zurückzuholen. Ihr Vortrag beschäftigte sich dabei nicht nur mit der Automobil-Produktion und stellte die Notwendigkeit von Flexibilität und Wandlungsfähigkeit einer Produktion anhand vieler Beispiele in den Vordergrund. Während nach Lean-Prinzipien gekreuzte Materialflüsse unerwünscht sind, werden diese bei einer Matrix-Produktion umgesetzt. Voraussetzung ist dann allerdings eine vertikale Integration vom ERP-System über ein MES bis hin zur Maschinensteuerung. Themen, mit denen sich aktuell viele Unternehmen beschäftigen. Ergänzt wird die Produktion der Zukunft dann durch eine horizontale Integration, der digitalen Supply Chain.
Nach einem informativen und kurzweiligen Nachmittag, stand beim gemeinsamen Abendessen zunächst das Gegenteil der Individualität – ein einheitliches Menü – im Vordergrund. Umso wichtiger, dass dann im Rahmen einer philosophischen Dinner Speech Dr. Philippe Merz, Geschäftsführer der Thales-Akademie, für die Teilnehmer neue und unerwartete Aspekte der Individualität betrachtete. „Wer will heute noch Standard sein? – Wie die Individualisierung Unternehmen und Gesellschaft herausfordert“ lautete sein Vortrag, mit dem er die Teilnehmer ohne Beamer und Präsentationsfolien auf eine Reise durch die Geschichte der Individualisierung mitnahm. Schon die zehn Gebote mit ihrer persönlichen „Du“-Ansprache und nicht zuletzt das Zeitalter der Aufklärung stellten Individuen in den Vordergrund und hoben sie aus der Masse heraus. Bis zum Übertrag auf die heutige Zeit ein hochspannender, anregender Vortrag und auch für die technisch geprägte Zuhörerschaft, eine lohnende Ergänzung zum Tagesprogramm.
Nach viel Theorie und Serienproduktion stand am Vormittag des zweiten Tages endlich der Besuch der R8-„Manufaktur“ auf dem Programm. Bei einer Taktzeit von 42 Minuten erlebten die Teilnehmer ein Eintauchen in eine andere Welt. Gespickt mit Informationen über Leichtbaukonzepte mit Aluminium- und CFK-Bauteilen konnte bei der Führung das Konzept der fahrerlosen Transport-fahrzeuge (FTF) in Augenschein genommen werden. Stapler sind in der Halle nicht zu sehen. Außer den FTF, die Karossen befördern, sind lediglich Routenzüge mit speziell auf die Produkte zugeschnittenen Transportwagen unterwegs. Viele Fragen der Teilnehmer konnten von den Tour Guides direkt beantwortet werden. Nach Drohnen oder vielfach gekreuzten Materialflüssen hielt man vergeblich Ausschau. Die Produktion der Zukunft mag ohne Fließband stattfinden, für die Großserienproduktion beginnt die Zukunft allerdings nicht morgen. Und vermutlich auch noch nicht übermorgen.
Dr. Gerrit Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!